Barcelona-Sessel 1929: Ludwig Mies van der Rohe

Timm Minkowitsch mit dem Barcelona-Sessel von Ludwig Mies van der Rohe in der MAKK-Ausstellung „34 x Design“ (Foto: Kirsten Reinhardt).

// von Timm Minkowitsch

Man sieht ihn heute nur noch selten: Den MR90, besser bekannt als Barcelona-Sessel. Noch vor einigen Jahrzehnten zierte er die Empfangsräume bedeutender Unternehmen, war in noblen Hotellobbys und Edel-Foyers kaum wegzudenken. Und obwohl sein Status als Ikone der Moderne ungebrochen ist, muss man ihn heute im öffentlichen Raum suchen. Könnte es daran liegen, dass Ludwig Mies van der Rohe, der kongeniale Entwerfer dieses Design-Klassikers, vielleicht einen Aspekt vernachlässigt hat?

Kaum jemand kann die elegante Form des Sessels ignorieren. Zwei Kreuze aus sanft geschwungenen Bandstahl bilden die Seitenteile. Die beiden Kreuze sind als Seitenrahmenstuhl über schlanke Stahlschienen verbunden. Dazwischen spannen sich kaum sichtbar die Riemen, auf denen die beiden Lederkissen der Sitz- und Rückenfläche ruhen. Die Maße sind Harmonie: Breite, Tiefe, Höhe, etwa 75 x 75 x 75 cm. Ein Sessel, der sich wie in einen unsichtbaren Kubus schmiegt.

Ein Stuhl für einen König
Das sanfte Kreuz der beiden Seitenrahmen erinnert an die Entstehungsgeschichte der Sitzmöbel – an den kurulischen Stuhl der römischen Würdenträger. In der Antike und bis ins Mittelalter war der Stuhl nicht nur ein Sitzmöbel, sondern immer auch ein Zeichen des sozialen Status. Auf ihm nahm der „Vor-Sitzende“ Platz. Der gewöhnliche Mensch saß auf Bänken, Hockern oder schlicht auf dem Boden. So gehörte der Stuhl auch nicht zum Hausinventar, sondern begleitete seinen Besitzer von Ort zu Ort. Praktischerweise konnte man ihn über das Drehkreuz zusammenfalten. Im MAKK lässt sich das an den mittelalterlichen Scherenstühlen der Sammlung gut erkennen.

Beim Barcelona-Sessel erinnert das Kreuz des Seitenrahmens an das frühere Drehkreuz dieser Faltstühle. Anders als bei diesen Faltstühlen spannt sich das Kreuz des Untergestells allerdings nicht auf der Vorder- und Rückseite des Stuhls, sondern links und rechts an den Seitenrahmen. So unterbricht das Kreuz nicht die Schauseite des Stuhls, die Vorderansicht. Von vorn zeigt sich die Harmonie des unsichtbar den Sessel umgebenen Kubus. Der Besucher nähert sich dem Sessel von vorn, formvollendet, wie bei einem Thron. Die Seitenteile mit gekreuztem Rahmen erinnern an den historischen Sitz eines Herrschers. Und das ist sicher auch kein Zufall, denn der Sessel war tatsächlich für königlichen Gebrauch bestimmt:

Barcelona 1929
Mies van der Rohe entwarf den Stuhl für die Weltausstellung 1929 in Barcelona, wobei der Löwenanteil der Gestaltung wohl seinem Mitarbeiter Sergius Ruegenberg zugesprochen werden muss. Der Bau des Pavillons des Deutschen Reiches war dem Büro von Mies van der Rohe anvertraut worden. Quasi in letzter Minute, bevor Ruegenberg für die Bauleitung nach Barcelona reiste, wurde der Sessel entworfen. Zum Eröffnungstag der Weltausstellung wurde das spanische Königspaar im Pavillon erwartet. Die Herausforderung: Zwei repräsentative Sessel für den königlichen Besuch.

Tatsächlich nahmen König Alfons XIII. von Spanien und seine bezaubernde Gattin, Königin Victoria Eugénie von Spanien, auf den beiden Sesseln jedoch nie Platz. Vielleicht gehört es zum Grundwissen von Majestäten, dass es immer ein ästhetisches Risiko ist, sich in der Öffentlichkeit auf ein fremdes Möbel zu setzen? Sollte der Leser heute mal einen Barcelona-Sessel sehen, sollte er unbedingt eine Sitzprobe wagen: Es ist kaum möglich, auf dem noblen Sessel grazil zu sitzen – und faktisch unmöglich, sich daraus ohne Hilfe würdevoll wieder zu erheben.

Handelt es sich hierbei vielleicht tatsächlich eher um ein Objekt als um einen praktischen Stuhl? Wurde hier gegen eine Maxime der Produktgestaltung verstoßen? „Form follows function“ gilt doch spätestens seit dem berühmten Zitat des Architekten Louis Sullivan 1896 als Grundsatz für gutes Design.

Die verschollene erste Generation
Einen Hinweis gibt uns vielleicht ein selten beschriebenes Detail: Wer sich die Sessel auf historischen Fotos ansieht, erkennt, dass die Lederkissen ein diagonales Muster zeigen. Zwischen den diagonal gesetzten Knöpfen, mit denen das Leder kaptoniert, d.h. geheftet ist, verlaufen diagonale Nähte oder Falten. Doch schon mit dem Anlaufen der ersten Auflage für den freien Verkauf des Sessels ab 1930 ist der Entwurf soweit überarbeitet, dass jetzt senkrechte und waagerechte Nähte die rechteckigen Lederflicken verbinden. Statt des diagonalen Musters der Kissen haben wir seitdem einen senkrecht-waagerechten Nahtverlauf. Damit wird die rechtwinklige, „kubische“ Grundstruktur des Sessels unterstützt. Wenn sich Mies van der Rohe über die Symmetrie des Sessels so viele Gedanken gemacht hat, warum waren die Kissen am Anfang schräg geknöpft? War die Zeit vielleicht zu knapp, um aus dem ursprünglichen Entwurf eines Hockers einen vollständigen Sessel mit Rückenlehne zu konstruieren? Die Spur der ersten beiden Sessel von der Weltausstellung verliert sich mit dem Abriss des Pavillons im Februar 1930. Sollte der Leser von einem Barcelona-Sessel mit diagonaler Knopf-Reihung Kenntnis haben, wird sich die Direktion des MAKK über einen dezenten Hinweis sicherlich freuen.

In Details wurde der Sessel inzwischen weiter überarbeitet. Die grundlegende Anlage war aber mit seinem ersten Auftritt 1929 in die Welt gebracht. Seine äußere Form hat überzeugt. Wer auf dem Sessel Platz nimmt, wird es zwar schwer haben, eine bequeme Sitzhaltung einzunehmen… Sollte man die federleicht wirkende Konstruktion verschieben wollen, müssen stattliche 25 Kilogramm gewuchtet werden… Von einer Federung, an der Mies van der Rohe zu der Zeit mit seinen Stahlrohr-Stühlen experimentierte, ist hier nichts zu spüren… Obwohl der Rahmen und die Riemen über Schrauben leicht montierbar sind, stellt das verschweißte Kreuz des Seitenrahmens bis heute hohe Anforderungen an manuelles Schweißerhandwerk. Das macht den Sessel zu einem teuren Inventar, einem Luxusobjekt. Doch alles Genörgel hilft nichts: Es ist und bleibt ein formschönes Möbel; elegant, erhaben und von aufwendiger handwerklicher Qualität, ein geschichtliches Dokument der Moderne, geboren in der Weimarer Republik und bis heute von zeitloser Schönheit – eine Design-Ikone. Und wenn man möchte, könnte man sich sogar darauf setzen (Anmerkung: Das gilt natürlich nicht für den Sessel im Museum – für eine Sitzprobe muss sich der Besucher schon einen anderen Sessel suchen).

Ausstellung 34 x Design

34 x Design ist eine Sonderausstellung anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der MAKK-Designabteilung der Stiftung von Prof. Richard G. Winkler. Aus etwa 100 Jahren Designgeschichte wurden 34 Objekte ausgewählt, die alle auf humorvolle und informative Weise in dem neuem Kinder-Designbuch „Überall Design und wir mittendrin“ dargestellt sind. Mehr Infos auf der Web des Museum für Angewandte Kunst Köln

Schreibe einen Kommentar